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Die unvorhersehbare Wende

Die unvorhersehbare Wende

Das Schicksal kommt unerwartet. Was gestern noch galt und Routine war, ist heute bereits überholt und brüchig. Die Welt verändert sich rasend schnell. Das Leben ist unberechenbar. Man kann Ereignisse nicht beeinflussen.

 

Aufgrund urlaubsbedingter Abwesenheit einer Erzieherin begab ich mich gewohnheitsmäßig am Dienstag, den 10. März, um 7 Uhr in das Casa Austria, um zwei Kinder in ihre Schule zu bringen. Kurz darauf ereilte mich die Nachricht eines Erziehers, dass heute der „letzte“ Schultag sein würde. Das Ministerium entschied am Morgen als Maßnahme gegen das Coronavirus, dass alle Schulen in Rumänien für zwei Wochen vorerst schließen müssen. Die Kinder und ich wurden von der überraschenden Nachricht völlig überrannt und es standen viele Fragen im Raum. Es herrschte auf einmal große Unruhe und Trubel im Haus. Während bislang eher Gelassenheit herrschte, waren nunmehr Nervosität und Ungewissheit zu spüren. Im Gegensatz zu einem Erzieher, der im Haus verblieb, kümmerte ich mich um die Hin- und Rückfahrt eines Jungen zu seiner Schule.

 

Üblicherweise ist die „Frühschicht“ sehr ruhig, da alle Kinder in der Schule sind und im Projekt weniger los ist. Heute war es jedoch anders und ich konnte mit den Kindern am Vormittag viel spielen. Zusammen mit drei Mädchen übten wir einen lustigen Tanz und amüsierten uns bei Gruppenspielen. Nach Schulschluss holte ich den Jungen wieder ab und wir speisten anschließend zu Mittag. Im warmen Sonnenschein spielte ich mit den Jungen Fußball im Garten. Noch vor Ende meines Arbeitstags, besuchte mich meine Koordinatorin, Nicole, aus Nürnberg und ich zeigte ihr das Casa Austria. Sie war sehr interessiert und schoss viele Fotos. Wir unterhielten uns noch eine Weile über verschiedene Themen. Ich erzählte ihr über meine persönlichen Projektziele für das kommende Halbjahr oder meine Erfahrungen über das Zwischenseminar in Albanien. Nach dem hilfreichen Gespräch wurde ich von Aida, meiner direkten Bezugsperson aus Bukarest, mit dem Auto zum Casa Abraham gefahren, um mein Zimmer Nicole zu zeigen.

 

Nachdem ich mich von Aida und Nicole fröhlich verabschiedet hatte, bekam ich urplötzlich einen Anruf von der Concordia-Direktorin. Diese informierte mich in Windeseile über das Coronavirus und die damit verbundenen Maßnahmen. Concordia empfahl, das Land wegen der ungewissen Zukunft in Rumänien und aus Selbstschutz sofort zu verlassen. Wir hatten zunächst die Wahl zu gehen oder zu bleiben, was man schriftlich erklären musste. Ich wurde von dieser alles verändernden Nachricht regelrecht überrollt und verfiel daraufhin in eine Schockstarre. Ich versuchte mich erst einmal zu beruhigen. Zum Glück kam direkt Miriam, meine Mitfreiwillige, vorbei und wir unterhielten uns über den Anruf. Nachdem wir wie üblich gemeinsam mit allen Jugendlichen Abendbrot gegessen hatten, kam Manuel, ein österreichischer Kochlehrer im Casa Abraham, vorbei und wir sprachen erneut über die Sachlage. Während Miriam gehen wollte, entschied ich mich zu bleiben. Deutschland war für mich sehr fern. Außerdem stellte ich keinen Risikofall dar.

 

Nach einer schlaflosen Nacht nahm ich am Morgen den Bus zum Casa Austria, um meine Chefin über die getroffene Entscheidung sofort zu informieren. Nach Ankunft herrschte ungewöhnliche Hektik, als Kinder und Erzieher anfingen, das gesamte Haus mit Desinfektionsmitteln gründlich zu reinigen. Ich half selbstverständlich mit und es machte mich sehr glücklich, in dem Moment bei den Kindern zu sein und im Haus mitzuwirken. Die gute Laune der kleinen Kinder steckte mich sofort an. Wir lachten wie üblich sehr viel und machten einige kleine Späße. Ich fühlte mich sicher und geborgen. Meine Chefin und ich besprachen danach meine weiteren konkreten Aufgaben und einiges Organisatorisches. Nach dem Gespräch war klar, dass ich in Rumänien bleibe und in das Casa Austria für die kommende Zeit umziehen würde. In Freude über meine getroffene Entscheidung blickte ich zuversichtlich in die nahe Zukunft.

 

Danach ging alles Schlag auf Schlag. Die Concordia-Direktorin rief mich erneut an und erklärte mir eilig, dass alle Freiwilligen sofort ausreisen müssten. Ich hatte keine Wahl mehr. Ich nahm diese Maßnahme hin, konnte es aber nicht wirklich realisieren. Nach einigen weiteren Telefonaten musste ich irgendwie die Nachricht in meinem Projekt verkünden, dass ich nicht mehr bleiben kann. Wie ihr euch denken könnt, viel mir dies alles andere als leicht. Ich wusste gar nicht, was ich sagen sollte. Ich wusste gar nicht, wem ich es zuerst sagen sollte. Jäh wurde ich aus meinen sichergeglaubten Plänen herausgerissen. Für mich brach in diesem Moment eine Welt zusammen. Ich war dort richtig. Ich konnte, wollte und durfte nicht so gehen. Ich wollte für „meine“ Kinder da sein. Ich wollte mit ihnen in den nächsten Wochen Schönes erleben. Ich wollte erfahren, wie es ist, mit den Kindern zusammen zu leben und ein Teil dieser wunderbaren Familie zu sein, die ich von Beginn an tief in mein Herz geschlossen habe. Unter Tränen versuchte ich es irgendwie den Kindern zu erklären. Viele Kinder wollten mich nicht gehen lassen, hielten sich an meinem Bein fest oder umarmten mich so lange es nur ging. Ein Mitarbeiter wies mich darauf hin, dass ein Taxi vor dem Projekt auf mich wartete und ich meine Sachen schnell in meiner Unterkunft für den Flug nach Deutschland packen sollte. Sogar eine Frau aus dem Vorstand von Concordia kam bei meinem Projekt vorbei und versuchte mich mit warmen Worten zu beruhigen.

 

Angekommen in meiner Unterkunft, wurde ich von meiner Mitfreiwilligen aufgefangen und sie half mir in dieser trostlosen Situation meine Sachen zu packen. Meine Enttäuschung spiegelte sich sogar körperlich durch Schwindel und heftige Kopfschmerzen wider. Als ich das Notwendigste zusammengepackt hatte, stand schon der Kleinbus, in dem alle anderen Freiwilligen saßen, am Eingangstor meiner Unterkunft. Nachdem ich mich nur noch von wenig anwesenden Jugendlichen aus meiner Unterkunft verabschieden konnte, stieg ich in den Kleinbus, der zum Flughafen in Bukarest fuhr. Ich konnte nur noch im Hintergrund „meine“ Stadt, Ploieşti, in Umrissen erkennen und ihr einen vorerst „letzten“ Blick schenken. Es war ein trauriger Moment. Gemeinsam mit Jacob, meinem Mitfreiwilligen, ging mein Flug am Tag darauf über Paris nach Berlin, wo mich ein Flixbus nach Dresden brachte. Ich fühle mich in Deutschland richtig fremd. Es fällt mir schwer, nach all den Ereignissen, mich in Deutschland wieder einzufinden. Alles ist so beängstigend ruhig, sauber und geordnet. Die Menschen um mich herum sprechen auf einmal wieder dieselbe Sprache. Die Probleme der Deutschen waren so unheimlich nichtig, wie zum Beispiel der Ärger, dass der Bus zu spät ist, oder das lange Warten auf das eigene Gepäck. Alles um mich herum war für mich sehr eigenartig, unbekannt und neu. Natürlich war auch hier die Angst wegen des Coronavirus sehr deutlich zu spüren.

 

Um das Beste aus meiner Situation zu machen, telefoniere ich mit „meinen“ Kindern und Mitarbeitern in meinem Projekt, sowie den Jugendlichen in meiner Unterkunft häufig. Erst letzte Woche entschied meine Entsendeorganisation Jesuit Volunteers alle Freiwilligen zurück zu holen. Das Auslandsjahr wurde für alle Freiwilligen beendet. Selbstverständlich werde ich wieder nach Rumänien so schnell es geht zurückreisen, höchstwahrscheinlich ohne der Obhut Jesuit Volunteers, wenn sich die Lage in Europa beruhig hat. Bis dahin bleibe ich mit meinen rumänischen Mitfreiwilligen intensiv im Kontakt und engagiere mich in Dresden soweit es geht sozial. Ebenso unterstütze ich meine Eltern im Alltag und kümmere mich um meine berufliche Zukunft. Ich versuche trotz der schwierigen Situation zu Recht zu kommen, verfalle jedoch sehr oft in Traurigkeit, nicht in Rumänien sein zu können.

 

Für mich ist es noch lange nicht zu Ende und ich werde weiterkämpfen. Selbstverständlich halte ich euch auf dem Laufenden. Bis bald und bleibt gesund.

 

„Wenn der Wind der Veränderung weht, bauen die einen Mauern und die anderen Windmühlen.“ (chinesisches Sprichwort)

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